Studie
der Tübinger Bildungsforschung: Der Einsatz von Tablet-Programmen sollte auf
Lernziele und die Voraussetzungen der Nutzer zugeschnitten sein
Grundschüler
profitieren von Tablet-Lernangeboten im Unterricht – aber nur, wenn diese an
die jeweiligen Lernziele sowie die kognitiven Fähigkeiten des einzelnen Kindes
angepasst sind. Zu diesem Schluss kommen Tübinger Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler des Hector-Instituts für Empirische Bildungsforschung und des
Leibniz-Instituts für Wissensmedien in einer Studie. Die Ergebnisse wurden in
der Zeitschrift „Learning and Individual Differences“
veröffentlicht.
Tablet-Computer
lassen sich intuitiv durch Bildschirmberührung und Steuergesten bedienen. Auch
jüngeren Kindern ist so prinzipiell der Zugang zu komplexen computerbasierten
Lernangeboten möglich. Aber können sie derartige Angebote schon sinnvoll
nutzen? Und führen komplexe Tablet-Apps für Grundschüler im Vergleich zu
einfacheren Angeboten auch zu einem erhöhten Lernerfolg? Um dies zu
beantworten, verglichen die Tübinger Forscher zwei verschiedene
Tablet-Lernanwendungen und untersuchten, ob Kinder mit sogenannten Hypermedien
‒ das sind vernetzte Dokumente, die mit anderen Medien wie Grafik, Ton oder
Video elektronisch verlinkt sind ‒ vertiefter lernen als mit einfacher
strukturierten Tablet-Angeboten wie einem multimedialen E-Book zum
Durchblättern.
Ihr Fazit:
Das Lernen mit Hypermedien hat Vorteile für das mehrperspektivische Denken,
also die Fähigkeit, ein Problem aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten.
Dies funktioniert aber nur, wenn Schülerinnen und Schüler über ein hinreichend
leistungsfähiges Arbeitsgedächtnis verfügen. Beim Faktenwissen schnitt die
„einfache“ Lernumgebung eines E-Books besser ab.
Für die
Studie entwickelten die Wissenschaftler zwei Arten von Lernmaterialien für
Tablets, mit deren Hilfe sich Kinder Wissen über das Thema Biodiversität von
Fischen aneignen sollten. Fast 200 Viertklässler aus Baden-Württemberg sollten
sich in die Rolle eines Aquariummitarbeiters versetzen und mit zwei Dutzend
verschiedenen Fischarten beschäftigen. Mit Hilfe von Tablets bewältigten sie
konkrete Aufgaben zu verschiedenen Themenbereichen: Welches Futter brauchen
einzelne Fischarten? In welchem Gewässer sind sie zuhause? Leben sie als
Einzelgänger oder im Schwarm? Die Aufgaben waren so gestellt, dass die Kinder
insgesamt sechs solcher thematischen Perspektiven einnehmen und miteinander in
Beziehung setzen mussten. Damit sollte über reines Faktenlernen hinaus auch
mehrperspektivisches Denken geschult werden, das für komplexe Problemstellungen
wichtig ist.
Die Kinder
der einen Gruppe erhielten ein hypermediales Tablet-Lernangebot. Als
Ausgangspunkt wurden alle Fischarten in einer alphabetischen Anordnung
abgebildet. Wenn die Kinder eine der Abbildungen auf dem Bildschirm berührten,
erhielten sie zusätzlich einen Text und ein Video mit Informationen zur
jeweiligen Fischart. Außerdem gab es sechs Schaltflächen, mit denen die Kinder
die Fische automatisch thematisch umsortieren konnten, zum Beispiel im Hinblick
auf Essgewohnheiten, Lebensraum oder Sozialverhalten. Die Kinder der zweiten
Gruppe wurden nicht durch diesen hypermedialen Perspektivenwechsel unterstützt.
Sie nutzten auf dem Tablet ein multimediales E-Book zum Durchblättern. Dies
enthielt zwar die gleichen Informationen zu den verschiedenen thematischen
Perspektiven, die Informationen wurden aber in der Reihenfolge vorgegeben, wie
sie zum Lösen der Aufgaben gebraucht wurden.
Gemessen
wurde, wie gut Kinder die einzelnen Aufgaben mit dem Tablet bearbeiteten und
wie gut sie sich später an die dafür relevanten Fakten erinnern konnten.
Außerdem wurde erfasst, wie gut sie das am Fisch-Beispiel erlernte
mehrperspektivische Denken auch auf neue Problemsituationen in anderen
Bereichen anwenden konnten. Schließlich wurde erhoben, wie gut ihr
Arbeitsgedächtnis in Bezug auf Sprache, Zahlen und visuelle Informationen
funktionierte. Die Ergebnisse zeigen zum einen, dass die Schüler sich Fakten
besser merken konnten, wenn diese in der einfachen E-Book-Version präsentiert
wurden. Das vertiefte Lernen im Sinne eines späteren mehrperspektivischen
Denkens bei einer Transferaufgabe wurde aber besser mit dem komplexen
hypermedialen Tablet-Lernangebot geschult. Dieser Vorteil fiel umso größer aus,
je besser das Arbeitsgedächtnis der Kinder funktionierte. Nur für Kinder mit
einer unterdurchschnittlichen Arbeitsgedächtniskapazität konnte kein Vorteil
der Hypermedia-App gefunden werden.
„Das heißt
nun aber nicht, dass hypermediale Tablet-Anwendungen leichtfertig im
Unterricht eingesetzt werden sollten“, erklärt Peter Gerjets vom
Leibniz-Institut für Wissensmedien. Vielmehr kommt es immer darauf an, welches
Lernziel man verfolgt und welche kognitiven Voraussetzungen die Schüler
mitbringen. „Für Kinder, die über eine hohe Kapazität des Arbeitsgedächtnisses
verfügen, scheinen Hypermedia-Apps jedoch potenziell nützlich zu sein, um
vertiefte Lernprozesse anzuregen.“
Publikation: Kornmann, J., Kammerer, Y.,
Zettler, I., Trautwein, U. & Gerjets, P. (2016). Hypermedia
exploration stimulates multiperspective reasoning in elementary school children
with high working memory capacity: A tablet computer study. Learning and
Individual Differences, 51, 273-283.
Kontakt:
Prof. Dr.
Peter
Gerjets
Leibniz-Institut
für Wissensmedien
Telefon +49
7071 979-219
|
Prof. Dr.
Ulrich Trautwein
Universität
Tübingen
Hector-Institut
für Empirische Bildungsforschung
Telefon +49
7071 29-73931
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